Das Prager Derby zwischen Slavia und Sparta war ausverkauft, darum nehme ich ein Wochenende später einen neuen Anlauf. Diesmal geht es nicht in den Norden, wo Spartas Stadion „auf Letenska“ steht, sondern in den tiefen Südosten, nach Nové Vršovice, wo Slavias Stadion auf einem multifunktionalen Arreal steht, das sich „Eden“ nennt. Ringsherum Betonblöcke. Zwar ist in das Stadion ein modernes Hotel eingebaut, das ein wenig an die Pillenarena in Leverkusen erinnert, ansonsten ist alles wie zu alten Zeiten: Kabel ragen aus den Wänden, durch die Toilettenböden gehen schwere Risse, Putz bröckelt. Die Preise sind sehr moderat. Wer von den Vermarktungsmaschinerien in Deutschland ein wenig die Nase voll hat, kann hier vielleicht etwas von dem Ursprungsgefühl zurückgewinnen, dass ihn irgendwann einmal ins Fußballstadion getrieben hat. Nirgends aggressive Hools wie etwa in Polen, wo man im Stadion immer weniger Frauen und Kinder findet. Hier: alles familiär.
Und das Spiel selbst? Mlada Boleslav ist der Gegner, seines Zeichens Tabellendritter, also ein echtes Spitzenspiel. Man sitzt ganz nah dran, kann den Profis zuschauen fast wie in der Kreisliga. Dieses Tempo! Sie grätschen, kämpfen und schubsen. Mlada ist offensiv weitgehend harmlos mit seinen drei unbeweglichen Brechern im Sturm, Slavia sehr geschickt und wachsam. Trotzdem bleibt das Spiel eng, vor allem weil Mlada hinten gut steht. Der Fünfer gefällt mir gut, er scheint noch sehr jung, ist aber sicher zwei Meter groß. Sehr sicher ist der! Zwar geht Slavia irgendwann doch durch eine feine Kombination und den trockenen Abschluss von Peter Olayinka in Führung, trotzdem bewahrt sich Mlada bis zum Schluss die Chance auf ein Unentschieden. Und sie werden sie bekommen, denn aus diesem Abend wird noch ein echtes Drama. Bis zur 93. Minute dauert es, ein letztes Gewimmel im Slavia-Strafraum, wo einer der orangenen Mlada-Spieler reglos liegenbleibt, wovon zunächst niemand Notiz nimmt. Aber wir sehen es: erst liegt er da wie tot, dann fängt er an, sich von Schmerzen geschüttelt hin und her zu wälzen. Das Spiel geht unterdessen weiter, steuert seinem Ende entgegen, bis der Schiedsrichter pfeift und entschlossen auf uns zuläuft, auf unsere Tribüne. Was hat er vor? Er läuft auf einen Kofferbildschirm zu, der lose irgendwo in der Gegend steht. Haben Sie hier etwa auch schon den Videobeweis? Oh ja! Aus wenigen Metern können wir ihn beim Prüfen der Szene beobachten, sich seine Stirn runzeln sehen, tausende Menschen schauen ihm über die Schulter, es wird ganz still. Erkennen sie dort vorne schon mehr? Er beugt sich noch weiter vor in seinem schwarzen Kostüm, drückt auf den Knopf in seinem Ohr, spricht etwas. Langsam richtet er sich wieder auf, dreht sich um, schreitet zurück aufs Feld, wo er mit den Fingern das obligatorische Video-Viereck beschreibt, dann pfeift er und deutet sehr entschlossen in die Ferne, auf das Tor auf der anderen Seite. Einer der Mlada-Verteidiger geht vor Glückseligkeit in die Knie. Elfmeter!
Nun hört man gar nichts mehr außer den etwa dreißig Mlada-Ultras, die eingezäunt in ihrem Gästeblock frenetisch jubeln. Es dauert noch eine ganze Weile, bis der Ball am Punkt liegt und Mlada ausgleichen kann. Es wäre eine solche Überraschung, und wie hart sie sich die Chance zu dieser Überraschung erarbeitet haben! Und was macht der Schütze? Er nimmt Anlauf, und – drischt den Ball in den Abendhimmel, irgendwo in die letzten Reihen der Slavia-Tribüne. Der Rest ist wieder ein großes Familienfest, auch wenn mir die in sich zusammensackenden Mlada-Spieler nun doch ein wenig leidtun. Doch sie haben ein versöhnendes Ritual, das sie ihrem Fehlschützen auferlegen. Er muss sich ausziehen und sein Trikot in den Gästeblock werfen. Damit scheint alles wieder gut.