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War es 2004?

Ich weiß noch, wie es damals war mit Prag. War ich zweiundzwanzig, dreiundzwanzig? In etwa. Es dämmerte und meine Mutter sprang herein, übergab mir ein Kuvert, ich könne das haben, wenn ich wolle, sie habe nur versehentlich da mitgemacht. Womit? Schon flog die Zimmertür zu. Ich zupfte am Kärtchen, das zum Vorschein kam. Ein Wochenende in Böhmen für 99 Euro, Typ Kaffefahrt. Ich rannte zur Tür, riss sie auf, rief: „Du hast eine Kaffeefahrt gewonnen?“ und wollte noch rufen: „Die du bezahlen musst?“, aber die Stille des Flures war zu eindeutig. Ich sah, dass die 99 Euro für zwei Personen galten, was immerhin günstig war. Ich bat jemanden ganz Besonderes, doch mit mir zu fahren, und bekam eine Zusage. Einen Tag vor Abfahrt wurde sie wieder zurückgenommen, Stipendienverpflichtungen gegenüber dem deutschen Volk. Schon saß ich allein im Bus voller Rentner und Halbrentner aus dem Sauerland, aber auch aus Hamm, Beckum und Sendenhorst. Ich saß und lauschte, rauchte an den Raststätten meine Zigaretten im Abseits. Wir hielten in Karlsbad, wo ich mich aus dem Raum mit Bienenstich und Kaffee fernhielt, um die dort stattfindende Abzocke nicht peinlich zu stören, lief unter Kolonnaden her und verlor mich im Anblick der Maria-Magdalena. Der Bus fuhr weiter, bis in ein Dorf vor Teplice. Ich erinnerte mich, dass Dortmund einmal gegen FK Teplice gespielt hatte. Die Rentnermeute hatte keine Wahl, als sich nach Prag kutschieren zu lassen, ich aber konnte fliehen, irgendwie. Waren es Busse, die ich nahm? Wie konnte ich den richtigen finden, wie mich verständigen, damals, wo ich noch nicht einmal ein wenig Polnisch konnte, so wie heute? Immerhin kam ich an und war von da an im Traum. Fuhr sofort hinaus an Kafkas Grab nach Žižkov, stand eine Weile davor und fühlte mich am richtigen Ort. Die folgenden zwei Tage stromerte ich, um nicht zu sagen: lief blind herum. Setze mich in Schenken, trank und aß. Weil ich die Lokale stundenlang nicht mehr verließ, zog ich Aufmerksamkeit auf mich. Nachts legte ich mich zu den Obdachlosen in die Bahnhofshalle, im Morgengrauen wurden sie verscheucht. Auch mir trat man leicht in die Seite, ich wedelte mit meinem Ticket und durfte liegenbleiben. Als ich am späten Sonntagmorgen ins Dorfhotel zurückkehrte, war die Gruppe abgereist. Ich verlängerte um eine Nacht und nahm den ersten Zug oder Bus nach Berlin.

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Erkundung, flusswärts

Von Juliana Kálnay. 

Nachts verschwimmen die Linien der Häuser hinter den Fensterscheiben und das Laternenlicht wird wässrig und dumpf. Wenn wir in den frühen Morgenstunden hinaustreten, ist das Kopfsteinpflaster immer noch feucht. Tagsüber gehen wir die Gegend erkunden. Wir packen Wasserflaschen ein und eine kleine Tasche mit dem Nötigsten. Dann teilen wir uns auf und verabreden einen Treffpunkt. Wenn Stella links geht, muss ich rechts gehen und umgekehrt. Öffentliche Verkehrsmittel sind nicht erlaubt, beim Auto zu warten ebenso wenig. Meistens mache ich mich auf die Suche nach einem Park oder einer Bank am Fluss. Einmal gelangte ich sogar über eine Brücke auf die Schützeninsel, ein grüner Fleck inmitten der Moldau, auf dem man an Abend sogar unter freiem Himmel Filme sehen konnte. Doch ich blieb auf meiner Bank, lauschte dem Rauschen des Wassers und fühlte mich dabei seltsam beruhigt, wenn ich an die Vodníks dachte, jene Wassergeister, die die Seelen der Ertrunkenen bewachen. Immer wieder hatte mir Stella von den hundert Legenden der Stadt erzählt. Als die Sonne anfing, unterzugehen, lief ich zurück zum Auto. Was Stella bei ihren Erkundungen macht, weiß ich nicht. Meistens ist sie erst später beim Treffpunkt und hat dann eine Tüte dabei mit lauter nützlichen Sachen.